Dr. Markus Erbach, Identity Matching
Endlich haben wir wieder eine echte Großstadt
Im verträumten Speyer am Rhein war damals für junge Erwachsene die DDR „Ausland“ und Frankreich in 50 km Entfernung viel vertrauter. Der Mauerfall korrigierte über Nacht nicht nur das Weltbild vieler Menschen, bei mir traf die Aufbruchstimmung meinen Provinzverdruss. Es war ja nicht nur das eingezäunte West-Berlin, in dem die Mauer fiel, sondern ein ganzes Land mit vielen Städten und Dörfern stand nun einfach offen und war im Inneren von seinen Kontrollmechanismen befreit. Kurz nach dem Mauerfall ging ich als junger Grafiker wegen eines Auftrags für 6 Monate nach Leipzig. Ich wohnte mangels vorhandener Hotels im Arbeiterwohnheim einer Gießerei, besuchte nachts den Studentenclub der Moritzbastei und diskutierte mit vielen Menschen. Die Stimmungen schwankten zwischen Euphorie und Verunsicherung, Naivität und Realitätssinn, Wut und Umarmungsgefühlen.
Natürlich wollte ich nicht wieder zurück in die Provinz und zog 1991 nach Berlin, um das inspirierende Vakuum der ersten Nachwendejahre und die Wiederaufbauphase hautnah mitzuerleben. In Berlin-Mitte kontrastierten die Utopien idealistischer Künstlerrevoluzzer die Phantasien profitorientierter Immobilienspekulanten. Es gab in dieser Zeit etliche ungenehmigte Clubs, ich erlebte phantastische Künstleraktionen und die ersten Technopartys Berlins(Foto rechts: Kunsthaus Tacheles 1993 mit einer russischen MIG, Rückseite). Über die markante Reichstagsverhüllung von Christo und Jeanne-Claude 1995 (Foto oben) freue ich mich noch heute: Sie versöhnte Viele und belegte als internationales Signal auch auf politischer Ebene eine souveräne Frische, mit der Deutschlands Erneuerung und Berlins Weltoffenheit assoziiert wird.
Seit 23 Jahren ein Berliner zu sein bedeutet, diese Energie tagtäglich zu empfinden, auch wenn inzwischen in Berlin-Mitte der Massentourismus und kommerzielle Fassaden die Orte meiner Erinnerung transformiert haben. In dieser Stadt der ständigen Erneuerung brodelt der kreativ-unruhige Geist stets an anderen Stellen. Auch mir hat Berlin entscheidende persönliche Entwicklungsimpulse gegeben. Einiges konnte ich zurückgeben, so habe ich u.a. die Marke für „Punkt Berlin“ gestaltet. Dass die weltweit erste City Top Level Domain im März 2014 online ging, ist ein Erfolg der Gründer, ohne die das digitale Berlin und andere Städtenamen als Internetadressraum noch nicht existieren würden.
Trotz vieler Härten und gemachter Fehler, kann sich Berlin heute weltweit sehen und spüren lassen. Insgesamt bleibt mir nur dankbar und beruhigt festzustellen: Endlich haben wir in unserem wiedervereinigten Land wieder eine echte Großstadt, die und in der sich etwas bewegt.